Freitag, 4. Januar 2013

„Der Fall Hypatia“ von Peter O. Chotjewitz

Mein Freund Wintersonne hat mir ein paar Schriftsteller empfohlen. Falls ich seiner Empfehlung folgen würde, dann sollte ich mit Peter O. Chotjewitz beginnen, und zwar beginnend mit „Fast letzte Erzählungen“, dann „Fast letzte Erzählungen 2“ usf. Beim Nachsehen habe ich ganz überrascht auch den Titel „Der Fall Hypatia. Eine Verfolgung“ von Peter O. Chotjewitz gefunden, erschienen 2002 in der Europäischen Verlagsanstalt, Hamburg, 262 Seiten, 22 Euro. Nicht auf der Liste von Wintersonne, ihm sogar bislang unbekannt, aber bei einer anstehenden Bestellung zu Weihnachten gab es das Buch sofort und auf die „Fast letzten Erzählungen“ hätte ich warten müssen. Also wollten höhere Kräfte ganz klar einen Chotjewitz-Start mit Hypatia.

Die Hypatia von Alexandria kannte ich aus dem letzten Kapitel von Harro Heusers „Lehrbuch der Analysis Teil 2“. In einem „historischen tour d'horizon“ stellt Harro Heuser die Mathematik-Geschichte beginnend mit den Pythagoreern in einer Abfolge neuer, die Mathematik weiterbringender Erkenntnisse und Durchbrüche dar. Beim Lesen kann man es richtig mitfühlen - sie waren so nah dran und haben es leider noch so versucht und die bessere Löung noch nicht gesehen. Und hundert Jahre später... Das so fruchtbare Vorwärtsschreiten der Griechen wurde aber durch die Römer beendet: „Die imperialen Erdenkklöße taten sich nicht wenig darauf zugute, anders als die sonderbaren 'Griechlein' die Wissenschaften nur so weit zu treiben, wie es das augenblickliche Bedürfnis gerade gebot (und das heißt, sie gar nicht zu treiben).“ Aus Sicht von Harro Heuser griffen die Römer nur einmal in die Geschichte der Mathematik ein: „durch den Mord an Archimedes.“

„Das aufkommende Christentum verfolgte die heidnischen Wissenschaften umso energischer, je freier es sich selbst zu regen vermochte. Der Bischof von Alexandria, Theophilos ...“ die von Harro Heuser zitierte negative Skizzierung von Gibbons lasse ich aus „ließ 392 den Serapistempel zerstören, der die mühsam wiederaufgebaute Universitätsbibliothek enthielt; zahllose Manuskripte gingen zugrunde. 415 riß ein christlicher Mob in Alexandria die anmutige heidnische Mathematikerin Hypatia buchstäblich in Stücke - das schauerlichste Symbol des Untergangs der antiken Wissenschaft. 529 schloß der Kaiser Justinian alle griechischen Philosophenschulen, diese Stätten 'heidnischer und verderbter Lehren'. Die Geschichte kennt keinen entschlosseneren Akt der Selbstverdummung“.

Hypatia wird oft wie bei Heuser als Mathematikerin bezeichnet, häufig als Philosophin, manchmal wird auch die Sternenkunde erwähnt. Ich bin kein Mathematiker. Wir wurden nur via Mathematik rausgeprüft und der erste Teil des Analysis-Lehrbuchs hat für das Überleben gereicht. Von Mathematikern, den anderen genannten Disziplinen und natürlich auch von Historikern hätte ich schon erwartet, daß sie von der Hypatia wissen. Das ist immer noch eine Minorität. Und allgemein ist die Mathematik und die Philosophie so wenig angesagt, daß mich die schwache Resonanz auf den Hypatia-Film vor fast drei Jahren nicht besonders gewundert hat.

Hypatia war die Tochter des Theon. Chotjewitz schreibt: „Die Hypatia-Literatur feiert ihn als bedeutenden Mathematiker, Astronomen und Philosophen. Das ist verständlich, denn seine Tochter war eine noch größere Gelehrte auf diesem Gebiet.“ Während von Hypatia keine Arbeiten überliefert sind, kennt man von Theon Kommentare zu Claudius Ptolemaios und eine Euklid-Edition. Theons mathematische Leistung wird dabei als nicht so hoch bewertet, was aber nach Chotjewitz nicht ausschließt, „daß er der bedeutendste Mathematiker und Astronom seiner Zeit war“. „Die großen Zeiten der Entdeckungen waren lange vorbei, und die Wissenschaften versackten in Spökenkiekereien.“ Das deckt sich irgendwie mit Harro Heuser.

Chotjewitz erwähnt, daß Hypatia von späteren/neuzeitlichen Autoren Arbeiten zugeschrieben wurden. U.a. die Mitarbeit an den ihrem Vater zugeschriebenen Kommentaren oder die Erfindung eines mechanischen Geräts, dessen Besorgung ihr ehemaliger Schüler Synesios von Kyrene von ihr erbeten hat. Die Erfindung des Geräts ist wenig plausibel, weil der ehemalige Schüler das Gerät - das Hypatia ja gekannt haben müßte - eigens für sie noch etwas beschreibt. Die Mitarbeit an den Kommentaren sei nicht belegbar, aber möglich. Aussagen in der Art „nicht belegbar, aber möglich“ finden sich häufiger im Buch. Wobei man neben den fehlenden belegten Arbeiten auch das unbekannte Geburtsdatum sehen muß - bei manchem kann sie nur bei einem frühen Geburtsdatum dabei gewesen sein, zum jung und schön gewesen sein hätte sie nicht so alt sein dürfen.

Belegbar hinsichtlich ihres Vaters soll aufgrund von Vergleichen mit später aufgefundenen nicht-theonischen Schriften sein, daß seine Euklid-Edition „im wesentlichen der Herstellung eines möglichst glatten, leicht verständlichen Textes der 'Elemente' diente“. Gesichert ist auch die Lehrerin Hypatia in einem elitären Bildungssystem. Also man wird sie sich aus bester Familie kommend und mit bester Vorbereitung durch einen bekannten und sehr kompetenten Vater vorstellen können. Das in einer der ersten Städte des Römischen Reichs mit einer überragenden Wissenschaftsgeschichte. Mit Schülern aus hochrangigen Familien und ehemaligen Schülern in hochrangigen Positionen, zu denen sie weiterhin Kontakt hatte. Das wäre schon eine sehr herausragende Stellung gewesen.

Wie kam es nach Chotjewitz zu ihrer Ermordung? Bei Chotjewitz wird sie zum Opfer von Machtkonstellationen und Demonstrationen von Macht. Es gab in diesen Jahrzehnten unterschiedliche Frontlinien: zwischen den ägyptischen Christen, beim Einfluß unterschiedlicher christlicher Parteien auf den Kaiserhof, bei der Konkurrenz der großen christlichen Zentren im Römischen Reich, und in Alexandria mit Heiden und Juden und dem römischen Präfekten. Die Darstellung im Buch legt in vielen Fällen das Schema nahe: neue Kräfteverhältnisse haben sich aufgebaut, es gibt eine Entladung, bei der der christliche Patriarch nicht unbedingt selbst in Erscheinung tritt. Es gibt vielleicht eine Gegenreaktion und eine neue Übereinkunft, die den Zurückgebliebenen deutlich die neuen Verhältnisse zeigt, etwa wenn wie im Fall der Hypatia früher undenkbare Taten möglich werden.

Ich habe mir versucht das neuzeitlich vorzustellen und mir ist dabei ein politischer Flüchtling aus Teheran eingefallen, mit dem ich in den 1980er Jahren mal zu einer Veranstaltung unterwegs war. Es ging um eine Getränkeeinladung, bei der er Tee bevorzugte, und ich wunderte mich damals, daß er im lockeren Smalltalk mit einem Unbekannten auf eine "ah, wegen Allah?"-Nachfrage antworte, er glaube nicht an Gott, er ziehe den Tee wegen Magenproblemen vor. Nach meinen damaligen Vorstellungen hätte er vor so einem Nichtglaubensbekenntnis zumindest ein Sekündchen zucken müssen. Ich hatte mich nie getraut ihn zu fragen, was ihm persönlich passiert ist. Mit Chotjewitz könnte ich mir jetzt ein Umfeld in Teheran vor der islamischen Revolution vorstellen, in dem nicht an Gott zu glauben völlig normal und akzeptiert war. Vielleicht war sein persönliches Schicksal nicht einmal so spektakulär, es blieb vielleicht bei einem Warnschuß. Stattdessen wurden exponierte Personen herausgegriffen und an denen straflos für die Mißhandler die neuen Machtverhältnisse demonstriert, so daß die meisten auf Linie gebracht wurden und viele andere gegangen sind.

Peter O. Chotjewitz hat zum „Fall Hypatia“ zahlreiche Informationen zusammen getragen und Querbeziehungen aufgezeigt. Im Kern findet sagt er zu Hypatia nichts neues, da könnte man sich auf das Durchlesen der Wikipedia beschränken. Die Stärke liegt eher beim Drumherum, also wie der Mechanismus gewesen sein könnte, der zur Tat führte. Man kann sich in den unterschiedlichen Konfrontationen dieser Zeit verlieren und wird in Kenntnis gesetzt, wie Hypatia in späterer Zeit wieder aufgegriffen wurde.

Ungewöhnlich für ein Sachbuch, aber einem Schriftsteller sicher erlaubt, stellt Chotjewitz einen Blick auf die Werke mehrerer Hypatia-Romanautoren an den Anfang des Buchs und endet mit einer „Spurensuche“ in und einer „Flucht“ aus Kairo und Alexandria, die surreale Elemente enthält, etwa einen Portier und einen Fahrer aus Kairo, die er glaubt in Alexandria wiederzuerkennen. Vor dem Reisebericht befindet sich im Buch seine Version des Todes von Hypatia in „fünf Akten“, bei der jedem Leser nach den vielen bisherigen „nicht belegbar, aber kann so gewesen sein“ klar ist, daß Chotjewitz den bestehenden Versionen nur eine weitere mehr oder weniger plausibel begründete hinzufügt. Die Klammerung durch Fiktionales ist wie gesagt ungewöhnlich, wirkt aber in mehrerer Hinsicht treffend. Sowohl angesichts dem vielen Unbelegten, das zum „Fall Hypatia“ behauptet wurde, aber etwa auch zu einem „zeitlosen“ Schema gewalttätiger Grenzüberschreitungen, die später keinem „Patriarchen“ bewiesen werden können, wo aber im Widerspruch zur fehlenden Anordnung von oben die Tat nie rückhaltlos aufgeklärt wird und die Täter bestraft werden.

„Der Fall Hypatia. Eine Verfolgung“ von Peter O. Chotjewitz hat mir sehr gut gefallen. Als Einschränkung ist zu erwähnen, daß Chotjewitz öfters Begriffe ohne weitere Erklärung verwendet, deren Bekanntheit er bei seinen Lesern nicht voraussetzen kann. Nach holprigem Start bin ich nach ein paar Seiten damit klar gekommen, obwohl ich das Nachsehen in der Wikipedia auf später verschoben habe. Das Buch ist zwar mit Fußnoten und weiterführenden Literaturangaben ausgestattet, beim damaligen Alter von Chotjewitz und dem noch neuen Internet bemerkenswerterweise auch inklusive den Ergebnissen einer ausführlichen Internetrecherche, es besitzt aber weder Glossar noch Index noch eine Karte. Letztere wäre sinnvoll, wenn man die Spurensuche von Chotjewitz in Alexandria nachvollziehen will.

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