Samstag, 20. Juli 2024

Mathematikgeschichte für Kinder und Erwachsene

Das folgende Buch halte ich für eine sehr empfehlenswerte erste Einführung in die Mathematikgeschichte:

Titel: „Mathematik: Die Geschichte der Ideen und Entdeckungen“
Autoren: Rybakow, Josif; Astrina, Marija
Illustration: Jaskina, Natalia.
Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2022, 160 S., Preis 22 €,
ISBN/EAN: 9783964281340

Ich habe das Buch als Wunschbuch eines Zehnjährigen kennen gelernt und mir nach vorsichtigem Reinsehen vor dem Verschenken ein Exemplar davon aus der Stadtbibliothek ausgeliehen. Mit einem zehnjährigen Leser im Kopf mag der folgende Auszug aus der Verlagsbeschreibung gruselig klingen: „Die Autoren berichten von der Erfindung der Null, von der Entdeckung der Zahl π, die es erlaubt, den Kreisumfang zu messen, vom Gesetz der Schwerkraft, von der Relativitätstheorie, von den Axiomen Euklids und den multidimensionalen Riemann-Räumen sowie von den mathematischen Grundlagen der Computertechnologie. Alles wird dabei so gut und einfach erklärt, dass auch (Noch-)Nicht-Mathematik-Cracks es verstehen. Dazu tragen nicht zuletzt die wunderbaren Illustrationen von Natalia Jaskina bei.“

Man muß sich bei dieser Beschreibung einen Fokus auf den „Ideen und Entdeckungen“ vorstellen. Die Autoren gehen bei den Ideen und Entdeckungen wenig in die Mathematik rein und lassen vieles aus, um es schlußendlich auf 160 Seiten aus der grauen Vorzeit bis in die Zeit der russischen Buchvorlage von 2016 zu schaffen. Das Buch ist seitens des Verlags in der Kategorie „Kinder- und Jugendbücher/Sachbücher, Sachbilderbücher“ einsortiert. Das Startalter sehe ich beim Verlag nicht, der ganz große Buchversender gibt 10 Jahre an. Wegen dem umfangreichen Programm sollte aus meiner Sicht ein großes Interesse des Kindes am Buch und ein interessierter Erwachsener als Ansprechpartner vorhanden sein.

Der große behandelte Zeitumfang ist eine Besonderheit des Buches. Ich habe bei meinen Stadtbibliotheksgelegenheiten in ein paar weitere mathematikgeschichtliche Bücher hineingesehen. Die behandelten einen begrenzteren Zeitraum, diskutierten dort einzelne geschichtliche Aspekte mehrere Seiten länger oder gingen auf die zugrundeliegende Mathematik viel tiefer ein. Man kann sich die Entscheidung für eine Vertiefung mit solchen Büchern für die Zeit nach dieser Einführung vorbehalten. Anregungen sich weiter mit der Mathematik zu beschäftigen bekommt man genug.

Die große Zeitspanne die das Buch umfaßt und die Art wie diese Einführung umgesetzt ist halte ich für sehr hilfreich um ein Gefühl für die teils sehr großen Zeitabstände zu bekommen, in denen die Entwicklungen stattfanden. Euklid mit seinen Geometrie-Axiomen wird etwa im Buch recht früh nach Thales und der Feststellung behandelt, daß die Griechen einführten auch Offensichtliches zu beweisen. Der Hintergrund war die Frage „ist es immer so?“, die die früheren Kulturen nicht so interessierte. Euklid gab dem Beweisen u.a. mit Axiomen eine Basis, auf der er seine Geometrie aufbaute. Erst mehrere Jahrhunderte nach den Elementen des Euklid kam die Arithmetica des Diophantos, die wird in „Vorwärts zur Algebra!“ ab Seite 55 behandelt. Über 1000 Jahre nach Diophantos mit René Descartes dann das kartesische Koordinatensystem, das findet sich im Buch auf Seite 116. Ich habe die Tage etwas über Winkelfunktionen in der Wikipedia nachsehen wollen und fand eine Erläuterung durch Formeln, die vermutlich passend und elegant war, aber einer späteren Ausdruckswelt entstammt. Ich habe mich in der Situation erstmalig gefragt, ob es nicht auch eine gute geometrische Erläuterung gegeben hätte. Und wenn ja, ob die geometrische Erläuterung für Personen ohne die notwendige Oberstufenmathematik für die stattdessen in der Wikipedia verwendeten Formeln und Umformungen verständlicher gewesen wäre.

Zur Art der Umsetzung: das Buch mutet anfänglich wirklich als Kinderbuch an. Es startet in der grauen Vorzeit mit der Frage, wie wohl die Menschen gelernt haben zu zählen. Von da aus arbeiten sich die Autoren schnell zu Zahlensystemen unterschiedlicher früher Kulturen vor, um dann zur Mathematik der Ägypter, Babylonier und den Griechen gelangen. Hierbei ist auch wirklich alles wunderbar illustriert.

Das Buch lebt von den Querverweisen zwischen den vorgestellten Ideen und Entdeckungen. Die werden aus meiner Sicht für unbegleitete Kinder bald etwas happig, weil man sich auf dauernd wechselnden Ebenen bewegt. Das oben beschriebene Aufschreiben von Mathematik ist etwas anderes als ein Beweis, der ist wieder etwas anderes als ein Axiom oder ein entdeckter mathematischer Satz. Die Logik ist wieder etwas anderes und wie uns die Mathematik beigebracht wurde sorgt für eine neue Ebene. Im Unterricht könnte der im Buch die Jahrtausende überragende Euklid bei vielen von uns untergegangen sein, weil man uns in unserem Geometriealter noch nicht den Aufbau der Geometrie aus Axiomen beibringen wollte.

Im Buch kommen die Querverweise zum einen im fortlaufenden Text vor, in dem man etwa nach vorgestellter Mathematik zu Passendem in der Sternenkunde oder vom Beweisgedanken zu Aristoteles und der Logik kommt. Zum anderen gibt es die Querverweise auch in Form eigens eingefügter Tabellen. In den Tabellen werden spaltenweise zeitlich aufeinander folgende Errungenschaften aufgeführt, etwa mit einer Spalte für die Ägypter „seit 4000 v. Chr.“, einer für die Babylonier „seit 3000 v. Chr.“ und einer für die Griechen „7. Jh. v. Chr. bis 4. Jh. n. Chr.“. In der Spalte der Ägypter gibt es dann eine Zeile mit dem „Anfang der Bruchrechnung“, in der Spalte daneben bei den Babyloniern ist in derselben Zeile die Schreibweise für alle möglichen Brüche und die Entdeckung der Wurzel aus 2 aufgeführt. Und daneben in der Griechen-Spalte steht der Beweis, daß die Wurzel aus 2 nicht als Bruch dargestellt werden kann.

Die logischen Gesetze des Aristoteles landeten im Buch in einer anderen Tabelle. In dem Fall neben einer Spalte mit deutlich später im Buch behandelte Themen. Die logischen Gesetze gelangten so neben das Thema „Leibniz und die universale Wissenschaftssprache“. Die Illustrationen sorgen bei solchen Sprüngen für ein Zeitkolorit. Häufig hat man zusätzlich auch einen Wiedererkennungswert einzelner Personen und bisweilen auch für das behandelte Thema.

Das Buch habe ich nach dem Durchlesen als bereichernd und anregend und unter dem Strich sehr empfehlenswert empfunden. Für mich hat es seine einführende Aufgabe erfüllt. Mit dieser Aufgabe war trotz der vielen vorgestellten Ideen und Entdeckungen eine Auswahl und viel Weglassen verbunden. Das hat nach meinem Gefühl ganz gut geklappt. Gegen Ende schwächelt der Text aber für mein Empfinden. Die belebenden Querverweise werden rarer und die Computer sind vielleicht nicht so das Ding der Autoren.

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