Ein Edikt des römischen Kaisers Konstantion aus dem Jahr 321, nach dem künftig auch Juden in Ämter der Kurie und der Stadtverwaltung berufen werden können, ist dieses Jahr Anlass für zahlreiche Veranstaltungen im Rahmen eines Festjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Die Anfrage, die zum Edikt führte, stammte aus Köln. Das Dekret gilt als früheste Urkunde zur Existenz von jüdischem Leben nördlich der Alpen. Mehr darüber kann man in einem umfangreichen pdf von „MiQua. LVR-Jüdisches Museum im Archäologischen Quartier“ nachlesen, aus dem ich eben auch meine Stichworte übernommen habe.
Der Titel „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ wird zum einen etwas kritisiert, weil es Deutschland zum damaligen Zeitpunkt noch nicht gab. Ich würde empfehlen, Deutschland in dem Fall einfach als geografische Angabe zu lesen, also es geht um Juden „im Gebiet des heutigen Deutschlands“. Zum anderen ist ein Kritikpunkt, daß bei diesem Titel das jüdische Leben vor diesen 1700 Jahren etwas unter den Tisch fällt.
Man muß sich vergegenwärtigen, daß der zuletzt in der Netflix-Barbaren-Serie dargestellte Publius Quinctilius Varus mehr als 300 Jahre vor diesem Edikt hier die Statthalterschaft nach seiner Statthalterschaft in Syrien übertragen bekam. Dort übte er diese zunächst in Zeitgenossenschaft zu König Herodes dem Großen aus und hatte laut Wikipedia eine Kontrollfunktion über dessen Königreich Judäa inne. Nach dessen Tod soll er die Erbauseinandersetzung von dessen drei Söhnen geschlichtet haben und bei Folgekonflikten nach römischen Plünderungen und Zerstörungen für die Kreuzigung von 2000 Juden verantwortlich gewesen sein. Das heißt, daß Vorstellungen von Juden, einem jüdischem Staat und einem jüdischen Glauben bei Leuten vorhanden waren, die vor mehr als 2000 Jahren im heutigen Deutschland herum liefen. Sehr wahrscheinlich wird damals und in den Jahren danach auch einiges Personal neu rekrutiert und hierher mitgenommen worden sein, so daß vermutlich schon zu einer Zeit, in der man noch garnicht an ein Christentum denken konnte, schon Menschen jüdischen Glaubens hier unterwegs waren.
Solche Wahrscheinlichkeiten sind aber keine Belege wie das oben genannte Edikt. Allerdings erinnere ich mich an eine Meldung vor ein paar Jahren, nach der man glaubte aus archäologischen Funden auf eine frühe jüdische Anwesenheit schließen zu können. Wahrscheinlich werden solche archäologischen Erkenntnisse in die entsprechenden Texte zum Festjahr einfließen. Es wäre in dem Zusammenhang auch zu beachten, daß laut „Juden im antiken Augsburg“ vielleicht auch einiges an Funden als christlich vereinnahmt wurde, was einen jüdischen Hintergrund hatte.
„Das Wort Juden“ bezeichnet laut Wikipedia „eine ethnisch-religiöse Gruppe oder Einzelpersonen, die sowohl Teil des jüdischen Volkes als auch Angehörige der jüdischen Religion sein können. Die Benutzung des Wortes oder Begriffs ist im historischen Kontext verschiedener Staaten, auch als dortige religiöse Minderheit, unterschiedlich.“ Laut Wikipedia waren Juden zeitweise missionierend tätig: „Weil zeitweise bis zu zehn Prozent der Bevölkerung des Römischen Reiches dem jüdischen Glauben angehörten, versuchte Kaiser Hadrian, die jüdische Mission zu verbieten.“ „Unter dem Druck des Christentums und des Islams erlosch die jüdische Mission.“
Ich hatte mal in „Besuch am Grab von Siegbert Tarrasch“ einen offenen Punkt bei mir so wiedergegeben: „Es scheint so, als ob eine Gesellschaft, in der es nicht lange zuvor eine Mehrheit an Nichtchristen und Nichtjuden und eine Minderheit an Juden gegeben hat, irgendwie recht schnell in eine Gesellschaft mit einer christlichen Mehrheit und einer jüdischen Minderheit transformiert wurde.“ Man könnte vielleicht auf Basis obiger Wikipedia-Aussagen mit dem späteren christlichen Druck gegen die jüdischen Missionierungen so schließen, daß die späteren jüdischen Bevölkerungsanteile so Pi mal Daumen auf Anteile aus früheren römischen Zeiten zurückgingen und die Christen derweil wie auch immer die Nichtchristen und Nichtjuden zu zusätzlichen Christen missionierten?
Noch ein Zitat aus meinem Tarrasch-Text: Die Vandalen eroberten 439 Karthago und konnten schon spätestens ab 455 damit beginnen ihr Augenmerk auf die Auseinandersetzung mit der konkurrierenden christlichen Glaubensrichtung in ihrem Herrschaftsbereich zu legen. Soweit ich mich an die Karlsruher Ausstellung „Das Königreich der Vandalen“ erinnere, hatten sie aber die örtlichen Juden toleriert.
D.h. während man gegen konkurrierende Christen teilweise massiv vorgeht, gibt es deutliche Bestrebungen, die jüdischen Gemeinden ungestört nebenher laufen zu lassen. Das Muster scheint sich in späteren Jahren zu wiederholen, in denen man regelrechte Kriege gegen abweichende Glaubensrichtungen wie etwa die Katharer führte, während die Juden laut „Jüdisches Leben in der Ottonenzeit“ bei den Karolingern und Ottonen unter kaiserlichem Rechtsschutz standen. Man mag da an eine durch den Verzicht auf Missionierungen unterfütterte friedliche Koexistenz denken, die die Respektierung einer Religion zuließ, der man sich verbunden fühlte.
Anderseits spielten die jüdischen Gemeinden vermutlich auch eine sehr wichtige Rolle für die damalige „Betriebsysteme“. Ich zitiere aus „Jüdisches Leben in der Ottonenzeit“: „Bei der Durchsicht der spärlichen Quellen und der Nachrichten scheint es mir so, das Fernhandel zwischen Europa und den Gebieten des Orients (inkl. Spanien), sogar bis nach Indien und China zu einer jüdischen Angelegenheit geworden war.“ Da geht es zwar um eine andere Zeit und andere Orte als bei den Vandalen, aber vielleicht gab es doch einige Gemeinsamkeiten. Und wenn man z.B. Angaben zur gründlichen Plünderung Roms unter Mitnahme von Handwerkern sieht, dann haben offenbar selbst die Vandalen neben ihrem Impuls die Gesellschaft stramm auf die eigene christliche Richtung auszurichten auch sehr auf den Erhalt eines funktionierenden „Betriebsystems“ geachtet.