Wie am Ende des ersten Teils Selinunt erwähnt, wurde von der Fläche des alten Selinunts nach der Eroberung nur der Bereich der Akropolis wieder besiedelt. Die Arbeiten an dem noch nicht fertig gestellten Tempel G wurden dagegen nicht fortgeführt.
Die heute zu besichtigenden Überreste geben also unterschiedliche zeitliche Stände wieder. Die Reste der Tempel E, F und G gehören zu einem größeren Selinunt, als es die Akropolis wiedergibt. Und die Veränderungen der Akropolis nach der Eroberung hätte es im alten Selinunt nicht geben können.
Eine andere Abweichung gegenüber der Zeit der Eroberung sind die heute verlandeten Mündungen zweier Flüsse, zwischen denen die Akropolis ursprünglich gelegen hat, und die seinerzeit als Hafenbecken genutzt wurden. Auf der Website des Archäologischen Parks Selinunt findet man nebst orginellen automatischen Übersetzungen für einen Überblick auch eine Karte des Parks.
Zwischen den Tempeln im Osten und der Akropolis gibt es heute eine Mulde, die gegen das Meer hin in einem Wäldchen endet. Den früheren „kleineren Fluß“ Hypsas und heutigen Cottone habe dort nur als nicht gerade sauberes Rinnsal unterhalb der Stärke eines Bachs wahrgenommen. Das Gelände von der Akropolis ist in Richtung Westen zum Modione hin, dem früheren Selinos, ebenfalls abschüssig. Dort im Osten befindet sich mit dem „Heiligtum der Malophoros“ (Demeter-Heiligtum) eine weitere Sehenswürdigkeit. Der Selinos und der Name der Stadt haben vermutlich ihren Ursprung im griechischen Wort Selinon für den wilden Sellerie, der im Selinos-Tal wuchs und zum Emblem der Stadt wurde.
Die viel größere Fläche, die das alte Selinunt eingenommen hat, kann man sich unter der Karte ansehen („Virtuelle Rekonstruktion von Selinunte Meer aus gesehen“ und „Virtuelle Karte des Archäologischen Parks“). Bei der Gelegenheit will ich auch gleich auf den Unterpunkt „360° Bilder“ und als Beispiel auf das Bild am zeitweise besonders gesicherten neuralgischen Punkt der Akropolis-Befestigung am nördlichen Übergang zur Hochebene hinweisen.
Mit den östlichen Tempelresten, der Akropolis und dem „Heiligtum der Malophoros“ hat man die hauptsächlichen Stellen durch, wo es im Archäologischer Park etwas zu sehen gibt. Das „durch haben“ ist leicht gesagt, weil man ja im kompletten Bereich der Akropolis oder bei den Tempeln ungestört herumlaufen dort tausende Dinge entdecken kann. Nach Karte gibt es auch zwei Antiquarien auf dem Gelände, bei einem waren wir und haben nicht gesehen, daß es für den normalen Park-Besucher gedacht war.
Der vor Ort gekaufte Führer verweist auch ausdrücklich auf externe Museen, um sich archäologisches Funde wie Metopen, Vasen, Skulpturen, Tonfiguren, Masken und Münzen anzusehen. Zuvörderst empfiehlt er das archäologische Museum in Palermo und die Stiftung Mormino der „Banco di Sicilia“ in Palermo, wo die meisten Gegenstände zu sehen sind, sowie das nahe Museum von Castelvetrano mit dem Epheben von Selinunt. Laut Führer soll Castelvetrano 10 Autominuten vom Park entfernt sein, Palermo etwa eine Stunde. Neben solchen Museumsbesuchen könnte man noch den antiken Steinbruch Cave di Cusa in sein Besuchsprogramm aufnehmen, in dem die Arbeiten vermutlich beim karthagischen Angriff unterbrochen und nie wieder aufgenommen wurden. (Hier zwei Ansichten des Cave di Cusa bei Robert Ehrhardt.)
Dieser kompakten Zusammenfassung, was es zu sehen gibt, steht nicht nur eine enorme Menge gegenüber - allein die Akropolis von Selinunt ist viel größer als das ausgegrabene Gelände von Herakleia Minoa. Der Archäologische Park von Selinunt und die ausgegrabenen Objekte bieten auch zahlreiche, sehr in die Tiefe gehende Besonderheiten. Problematisch scheint dabei, daß das Wissen über Selinunt offenbar noch lückenhafter ist als über Agrigent oder Syrakus - man vergleiche etwa in den Texten die Aussagen über handelnde Personen, wo man mit zahlreichen Namen aus Agrigent und Syrakus versorgt wird, während Selinunt namenlos bleibt. Mir kommt es so vor, daß mit dem schwächeren Zuordnungsrahmen die wissenschaftlichen Texte schwächer fundiert werden können und in der Folge auch der Schwanz der Reiseführer- und sonstigen -texte stärker wackelt und dort mehr Widersprüchliches und Vages zu finden ist.
Ein paar Besonderheiten Selinunts sollen aber noch erwähnt sein: zunächst die, daß auf dem Gelände einer griechischen Stadt in der Folge punisch gebaut wurde. Wie drückt sich dieses Zusammentreffen der Kulturen aus? Hierzu ist bei der Uni Köln die Dissertation von Dr. Sophie Helas mit dem Thema „Die punischen Häuser in Selinunt. Wohnen zwischen punischer Tradition und griechischem Einfluß“ als pdf-Datei downloadbar. Man sieht dort auch ein Beispiel für das erwähnte lückenhafte Umfeld, in dem Fall die Zeit nach 409, in dem die dann sehr rege werdende punische Bautätigkeit einsortiert werden muß und die Fragen aufwirft: wo kamen die Einwanderer her, die Punier hatten ja nie den Bevölkerungsdruck, um ein ausgeblutetes Sizilien wieder aufstocken zu können? Und was passierte mit der Bevölkerung während den Zeiten unter griechischer Herrschaft?
Ganz gut passend zu dieser Zeit nach der Zerstörung eine andere pdf-Datei von Michael Wiederstein mit dem Titel „Die griechische Planstadt Selinunt“, die sich mit dem Selinunt vor der Zerstörung befasst.
Eine weitere Besonderheit sind die Verteidigungsanlagen der Stadt. Ich weiß nicht, wie solide diese Aussagen in Gerhard Herms Buch „Die Phönizier“ sind: die Karthager sollen Selinunt und in der Folge Himera mit riesigen Belagerungstürmen erobert hätten, denen die Griechen nichts entgegen setzen konnten. Zum anderen sollen beim Gegenschlag von Syrakus unter dem Diktator Dionysios bei der Eroberung von Motya (Mozia) als militärische Neuerung riesige Steinschleudern zum Einsatz gekommen sein. Jedenfalls muß es in diesen Kriegen auch ein technisches Wettrüsten gegeben haben, was sich in verbesserten Verteidigungsanlagen niedergeschlagen hat und was zeitweise zu einem vermuteten mehrstöckigem Bollwerk am oben genannten neuralgischen Punkt im Norden der Akropolis führte, dessen untere Stockwerke für einen Massenausfall von Soldaten und dessen oberstes Stockwerk für das Aufstellen von Katapulten geeignet war.
Die Metopen habe ich schon genannt, sie stellen für sich schon eine Besonderheit dar (Bilder finden sich auf der Website der Uni Erlangen). Der vor Ort gekaufte Führer erklärt das Bildprogramm der Metopen teilweise mit der besonderen Situation, in der sich die sizilianische Kolonistenstadt befand. Ihre Entstehung und manche Eigenheiten im Bildprogramm etwa von Vasen auch mit der ethnischen Zusammensetzung der Selinuntiner. Eine sehr spannende Sache, wenn das funktioniert und man bspw. aus dem stärkeren Auftreten bestimmter Götter oder Mythen Rückschlüsse auf Einwanderungswellen aus bestimmten griechischen Regionen ziehen kann. Wobei das aber schnell wie oben gesagt vage wird. Außerdem muß man froh sein, daß ein kleiner Führer solche Zusammenhänge überhaupt erwähnt, Verweise auf die weiterführende Literatur, gar in der jeweiligen Landessprache, darf man nicht erwarten. Für eine erste Vertiefung der erwähnten Besonderheiten ist aber die Website des archäologischen Parks nicht schlecht, trotz der schlechten Texte.
Abschließend der Hinweis auf das Heiligtum der Demeter Malophoros. Der vor Ort gekaufte Führer liefert hier eine große Menge Stichworte, noch stärker im Vagen bleibend: „es wird angenommen, daß sich hier einheimische, griechische und nichtgriechische Bevölkerung traf“. Vielleicht ein „pansikanisches Heiligtum“? Ein Wasserkult? Hier am Fluß soll auch eine Quelle zutage getreten sein, d.h. es traf sich Fluß, Quelle und Mündung in das Meer. Wurden chthonische Gottheiten angebetet? Ein „Aufeinandertreffen orientalischer und westlicher Kulturen“. Erwiesen ist wohl ein wichtiges Zentrum des Demeterkultes, und der Demeterkult soll in Sizilien eine besondere Rolle eingenommen haben. Außerdem soll der Demeterkult auch von Puniern übernommen worden sein. Punische Änderungen am bauliche Heiligtum nach der Eroberung sind wohl erwiesen. Wobei allerdings der Führer an anderer Stelle spekuliert, daß das Heiligtum im 4. und 3. Jh. v. Chr. von den Karthagern phönizischen Göttern geweiht worden sein könnte.
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