Dienstag, 15. März 2022

Sutton-Hoo-Ausgrabung als Spielfilm bei Netflix

Anfang letzten Jahres erschien beim Streaming-Dienst Netflix der Spielfilm „The Dig“ („Die Ausgrabung“), der über den Umweg eines 2007 erschienenen gleichnamigen Romans eine der bedeutendsten englischen Ausgrabungen als Vorlage hat. D.h. es gibt zwar zahlreiche personelle und sachliche Überschneidungen zwischen Realität, Roman und dem Film, aber schon der Roman enthält einiges an Fiktion, welche dann im Film umgesetzt wurde.

Sutton Hoo bezeichnet einen archäologischen Ausgrabungsort, an dem sich eine größere Zahl Grabhügel befinden. Einer dieser Grabhügel wurde 1939 geöffnet und enthielt überraschenderweise noch reiche Grabfunde, durch die man viel über die als „dunkle Zeit“ empfundenen frühen Jahre der Angelsachsen erfuhr. Darüber hinaus kann man das Grab wahrscheinlich sogar mit Rædwald, einem König von East Anglia, einer geschichtlich bekannten Persönlichkeit zuordnen.

Den Anstoß zur Ausgrabung gab seinerzeit die Grundbesitzerin Edith Pretty, die den „self-taught Suffolk archaeologist“ Basil Brown mit der Ausgrabung beauftragte. Als sich die archäologische Bedeutsamkeit immer deutlicher erwies, arbeitete Basil Brown zwar weiter mit, wurde aber bei der Leitung der Grabung und der Bergung der Grabkammer durch akademische Archäologen abgelöst.

Der Film hat wie gesagt einen Roman zur Vorlage. Schon in diesem wurden die Ereignisse im wesentlichen auf die Ausgrabung dieses einen Grabes zusammengezogen. In Wirklichkeit begannen erste Ausgrabungen in dem Grabhügelfeld durch Basil Brown und sein von Edith Pretty gestelltes Hilfspersonal schon 1938 und zeigten erste Erkenntnisse, die im Roman und im Film den 1939-Grabungen zugesprochen werden. Dazu und anscheinend zu allen weiteren denkbaren Aspekten der Grabung und der handelnden Personen gibt es sehr viele und detaillierte Informationen im Netz.

Als Einstieg empfehle ich diesen kurzen für die dguf entstandenen Text des Archäologen Jens Notroff über den Film: „Eindrückliche Darstellung der Ausgrabungen in Sutton Hoo, mit erzählerischen Schwächen“. Ich denke Jens Notroff hat die wesentlichen Punkte des Films zusammen mit seiner Bewertung aus Archäologensicht sehr gut dargestellt.

Die tatsächlichen zwei Phasen der Ausgrabung - also die unter der Leitung von Basil Brown und die spätere, in der die akademischen Ausgräber dominieren, bestimmen trotz diverser fiktiver Elemente den Spielfilm. Vermutlich kam der Romanautor darum nicht herum, es ergibt sich dadurch aber ein ungewöhnlicher Bruch in der Filmmitte. Zunächst regiert Basil Brown auf den Grabhügeln, dann spielt er dort eine untergeordnete Rolle. Schauspielerisch tragen Carey Mulligan als Edith Pretty und Ralph Fiennes als Basil Brown trotzdem den ganzen Film. Jens Notroff erklärt den blass bleibenden restlichen Cast damit, daß die Sensation der archäologischen Entdeckung kaum noch Möglichkeiten zur Entfaltung lässt, was sicher auch stimmt. Aber wie hält man das Augenmerk auf Brown und Pretty?

Der Film lässt es im ersten Teil zwischen der verwitweten Edith Pretty und Basil Brown „knistern“. Bis zu einer schiefgelaufenen Essenseinladung durch Edith Pretty klärt sich zwar, daß Basil Brown einer anderen Welt verhaftet ist. D.h. bis zur Mitte des Films ist man damit durch. Es bleibt aber bis zum Ende des Filmes eine fortlaufende Sorge, Loyalität und Fairness zwischen Edith Pretty und Basil Brown. Die Sorge durch Brown drückt sich etwa durch den Körpereinsatz beim Schutz der herzkranken Pretty vor aufdringlichen Journalisten aus, Pretty sorgt sich umgekehrt um Browns aktuelle und spätere Würdigung. Es gibt auch weiterhin im Film Bildkonstellationen mit Pretty zusammen mit Brown und Prettys jungem Sohn. Den Liebesbeziehungsfaden nimmt hingegen eine Archäologin im zweiten Teil des Filmes auf. Es wird also etwas durchexerziert für diejenigen, die noch am Knistern hängen blieben. Und das von Nebenrollen, denn im Film geht es schließlich um die Ausgrabung.

Sowohl das Knistern zwischen Pretty und Brown als auch die Liebesgeschichte der Archäologin ist fiktiv. Die Erfindung ist bei der Archäologin sogar belegbar, weil es ihren Liebhaber nicht real gegeben hat. Der die Ausgrabung fotografierenden Verwandte von Pretty wurde für den Roman erfunden, die tatsächlichen Fotografinnen unterschlagen. Pikanterweise ist die Archäologin, der das Liebesverhältnis angedichtet wurde, sogar die Tante des Romanautors. Zu der Archäologin Peggy Piggott gibt es einen umfangreichen Text „Has Britain recognised its old and 'Uncrowned Queen' of Sutton Hoo, the brilliant Peggy Piggott ?“.

Auf „The Dig“ bzw. „Die Ausgrabung“ einzugehen war von mir im Rahmen einer kleinen Netflix-Serie geplant, die im November 2020 mit „Die Schlacht im Teutoburger Wald bei Netflix“ begann. Bis zum Ansehen des Filmes hat es aber noch ziemlich gedauert. Zumindest habe ich aber in der ersten Zeit noch fortlaufend die Reaktion in den Medien verfolgt. Die war außerordentlich beeindruckend. Zwar gibt es bei international startenden Filmen auch weltweit Artikel zum Film, aber hier war besonders viel Engagement in den ehemaligen britischen Siedlungsgebieten zu sehen. Es gibt im Film dazu passende Aussagen in die Richtung: es ist nicht irgendein Wikingergrab, sondern einer von uns, es betrifft unsere eigene frühe Kultur und Geschichte. Mir kam es so vor, daß der Film auf eine derartige weit verbreitete Empfindung aufsetzen konnte.

Die weltweite Resonanz ist teilweise sogar mittelfristig ausgelegt. Dieses Jahr gab es von der Society for American Archaeology eine Ausgabe von „The SAA Archaeological Record“ mit mehreren Artikeln zum Film. Die Medienresonanz wurde von den betroffenen Institutionen begleitet. Jens Notroff verweist auf einen Blog-Eintrag des Britischen Museums „Inside 'The Dig': how the star-studded film squares with reality of Sutton Hoo“. Und von den heute in dem Gebiet tätigen Archäologen gab es jüngst Berichte von aufgefundenen Werkstätten, in denen möglicherweise in den Grabhügeln von Sutton Hoo aufgefundene Gegenstände hergestellt wurden.

In der Realität scheint die damalige Ausgrabung für alle Beteiligten sehr gut gelaufen zu sein. Auch Rædwald würde sich wohl freuen, wenn er sehen könnte, wie er in die heutige Zeit aufgenommen wurde. Das ist nicht selbstverständlich. Raubgräberei war auch damals ein bekanntes Problem. Trotz damaliger Klassengegensätze ist aber anscheinend nichts während der Ausgrabung verschwunden. Edith Pretty wiederum wurde nicht staatlicherseits um ihre Funde gebracht und vergessen, sondern konnte sich durch die Spende an das Britische Museum verewigen. Selbst hinsichtlich Basil Brown wird dem Film dahingehend widersprochen, daß er seinerzeit nicht angemessen gewürdigt worden wäre. Und er konnte auch neben der Sutton-Hoo-Ausgrabungen laut Wikipedia trotz Widrigkeiten ein reichhaltiges Archäologenleben führen. Wobei er auf Empfehlungen bauen konnte. Zu dem Auftrag von Edith Pretty ist es ja nur durch so eine Empfehlung gekommen.

Respekt, Vertrauen, Fairness und tiefsinnige Gespräche wird es sicher seinerzeit auch in der Realität gegeben haben. Insofern passt der im Film aufgebaute Grundtenor irgendwie schon. Der Film kam sehr gut an, die Wikipedia stellt aktuell fest: „Rotten Tomatoes reports that 88% of 153 critics gave the film a positive review“. Ich fand den Film auch sehr schön umgesetzt und sehenswert. Anderseits, gerade weil seinerzeit alles so gut gelaufen ist, würde ich denken, der Film hätte sich auch wesentlich mehr durch die damalige Realität tragen lassen können. Das Knistern und die Liebesgeschichte war in einem zweiteiligen Film zwar ein interessantes Konstrukt, aber das reale Zusammentreffen von Edith Pretty und Basil Brown würde mich mehr interessieren.